Kritik?

Wir engagieren uns für eine kritische Erwachsenenbildung und diese Initiative entspringt einem tiefen Unbehagen angesichts aktueller Entwicklungen, einer Wahrnehmung von neoliberalen Vereinnahmungen und neoliberal inspirierten Umstrukturierung des gesamten Bildungswesens, einer Ablehnung vorherrschender, kaum hinterfragter Nutzbarkeits- und Verwertungsinteressen. Solche Verhältnisse erfordern radikale Kritik, für die wir uns zusammengefunden haben. Getragen von einer gemeinsamen Grundhaltung, wenn auch mit unterschiedlichen Nuancen, machen wir uns hier auf eine Spurensuche nach einem Kritikverständnis, nach Ausgangspunkten von Kritik, nach kritischen Aspekten in der Erwachsenenbildung.

Was ist Kritik?

Foucault umreißt Kritik als kritische Haltung, als kritische Praxis, als fragende Praxis, als Selbst-Transformation und Auslotung der Möglichkeit der Entunterwerfung. Adorno und Horkheimer entwickeln einen Kritikbegriff, der Bestehendes radikal, d.h. Ursachenkomplexen auf den Grund gehend, hinterfragt und in erster Linie negativ verfahren kann, als Feststellung abzuschaffender Zustände.

Kritik ist nicht als moralisches Urteil zu verstehen, sondern sie stellt Legitimitäten ohne einen Rekurs auf eine fundamentale, universal gültige Ordnung in Frage. Kritik kann so nur immanent sein, analysiert und agiert aus der der jeweiligen historischen Konstellation heraus, in die auch die KritikerInnen selbst eingebunden sind. Der Maßstab ist weder ein ahistorisches, transzendentales Ideal noch eine moralisch begründete Wertung. Ursachen, Maßstäbe und Wahrheitsmomente eines solchen Kritikverständnisses liegen in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen. Unrecht und gleichzeitig das Potenzial, also die Möglichkeit zu dessen Überwindung lassen sich kritisch wahrnehmen und erfahren. In die Kritik genommen – und potenziell damit der Auflösung zugeführt – werden die Ursachen für dieses Unrecht. Der kritische Blick richtet sich auf existierende Widersprüche, Brüche, Ursachen, jene gesellschaftlichen Realitäten, die das Denken und Handeln (de)formieren. KritikerInnen können sich dabei nicht sicher sein, keinen Täuschungen zu erliegen – sind sie doch selbst in die gesellschaftlichen Denk- und Begriffsformen verwoben. Dieser Umstand und der Maßstab, das Moment der Kritik aus der historischen Konstellation heraus erfordern ständig wiederkehrende Selbstreflexion und Kritik der Kritik.

Bei Foucault ist Kritik eine Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, die intensiver Übung und Praxis bedarf und nicht einfach eine rationale Entscheidung der AkteurInnen ist. Sie ist viel eher ein Habitus, den die KritikerInnen in einer kritischen Lebenspraxis Tag für Tag ausüben und somit verstärken. Kritik ist demnach eine spezifische Praxis des Befragens und bedarf stets der Selbstreflexion. Sowohl in der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos als auch bei Foucault ist dementsprechend von Kritik als Lebensweise, als Haltung, als Praxis die Rede. Horkheimer spricht von „kritischem Verhalten“, Foucault von einer „kritischen Haltung“. Und dennoch liefern beide keine einfachen, praktischen Handlungsanweisungen, Rezepte und Befreiungsperspektiven. Vielmehr bleiben die Notwendigkeit der Negation und die Offenheit dessen, was das Bessere sein könnte. Gleichzeitig besteht ein Bewusstsein über eine mögliche Verbesserung und ein Engagement dafür. Die Notwendigkeit der Negation ergibt sich daraus, zunächst nur auf die Unstimmigkeiten und Verschleierungen hinweisen zu können, ohne jedoch noch zu wissen, was das Bessere sei.

Kritik negiert demnach, worin sie selbst verwoben ist. Sie reflektiert auf ein mögliches Besseres, ohne es bestimmen zu können. Sie erfordert Infragestellung ohne sichere Ausgangs- und Endpunkte. Kritik irritiert beabsichtigt.

Kritische Erwachsenenbildung

Bildung, Wissen, Lernen sind in machtvolle und herrschaftsförmige Verhältnisse eingebunden, stehen im Kontext von Macht und Machtentzug. Wissen ist von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogen. Bildungs- und Lernprozesse finden an konkreten Orten und in konkreten Machtverhältnissen statt. Organisationsformen und Inhalte sind von Herrschaftsinteressen geprägt.

Kritische Bildungsdiskurse unterscheiden dementsprechend zwischen einer wissensgenerierenden Praxis, die Machtverhältnisse unsichtbar macht und Ungerechtigkeit verstärkt und einer ermächtigenden an den Problemen der jeweiligen AkteurInnen orientierten Praxis oder Bildungsform. Während erstere als Erziehung Unterwerfung und Konformität impliziert, kann sich zweitere als Bildung aus der Bewegung selbst gegen Herrschaft richten und eröffnet prinzipiell Möglichkeiten zur Negation, Selbstbestimmung und Befreiung, auch wenn dies nicht notwendig determiniert ist. Ein solcher Bildungsbegriff beinhaltet ein herrschaftskritisches Potenzial, meint also weder einzelne menschliche Vervollkommnung noch ist er jener verwässerte, inhaltsbeliebige und dennoch wohlklingende Begriff, der im aktuellen alltäglichen und bildungspolitischen Sprachgebrauch für alles und jedes eingesetzt wird. Bildung könnte so zum „Inbegriff des Kritischen“ erhoben und zur Übung der Kritik werden und Lernen und Lehren wird zu einem politischen Akt, wenn Bildung gleichzeitig der Gewalt von Macht und Entmächtigung ausgesetzt ist und doch mächtig und befreiend wirksam werden soll.

Angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen ist mehr denn je eine kritische Erwachsenenbildung einzufordern und weiterzuentwickeln. Kritische Erwachsenenbildung in unserem Verständnis nimmt Widersprüche wahr, fördert deren Wahrnehmung und stellt diese Widersprüche in den Mittelpunkt. Sie versteht sich als Gesellschaftskritik und konfrontiert aktuelle Vorgänge mit potenziell befreienden Möglichkeiten. Kritische Erwachsenenbildung übt sich in Negation inhumaner, ungerechter Praxis und im Zweifel vorherrschender Normen und Unterdrückungsbegründungen. Negation und radikale Kritik mag auf den ersten Blick „unpraktisch“ sein, aber: Als kritische Haltung, als kritische Analyse bestehender Widersprüche, als zweifelnde Denkbewegung eröffnet sie Wege für die Herausbildung von Widerstandskraft, von gesellschaftlicher Emanzipation.

Die vorherrschende Erwachsenenbildungsforschung, -politik und -praxis ist radikal in Frage zu stellen. Kritische Erwachsenenbildung ist eine Aufgabe von Theorie und Praxis gleichermaßen, erfordert kritische Analysen ebenso wie konkrete Handlungen.

Kritische Erwachsenenbildung will dezidiert benennen, will gewohnte und von herrschaftsleitenden Interessen angebotene Perspektiven und Sichtweisen verlassen und neue Handlungsmöglichkeiten und Haltungen erfahrbar machen und orientiert sich an einem gesellschaftlichen Bildungsbegriff, in dem Verhältnisse und Individuen ineinander verwoben sind und veränderbar. In einer solchen Bildung geht es um Selbstbestimmung, nicht um Selbststeuerung und es geht um Emanzipation, nicht um Anpassung.

Bildung bedeutet so verstanden die kritische, reflektierte, differenzierte und (selbst-)bewusste Aneignung der eigenen Lebensumstände. Zentral ist kritischer Bildung aber auch die selbstkritische Befragung daraufhin, nicht selbst zur Durchsetzung und Reproduktion bestehender Zustände beizutragen.

Kritische Erwachsenenbildung ist Teil politischer Handlung. Widersprüchlichkeiten zwischen kritischen Anspruch und eigener Abhängigkeiten innerhalb der kritisierten Verhältnisse sind immanent und stellen uns bisweilen vor Schwierigkeiten. Dennoch sind wir überzeugt, dass Kritik möglich ist, dass kritisches Denken, Verhalten und Handeln umso nötiger ist. Kritisch nehmen wir gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick und verstehen Bildung als einen, nicht einzigen, Beitrag zu einem kritischen Bewusstsein, das sich hegemonialen Herrschaftsansprüchen und aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber widerständig verhält.